Archiv für den Monat: Juni 2020

Einfach sein

Es ist schwül. Ich sitze auf dem Balkon unserer Ferienwohnung in Schluein. Seit der Lockdown-Zeit bin ich ein noch grösserer Fan von Balkonen geworden. Es hat mir schon immer gut gefallen, wie in Wohnblöcken die Balkone individuell gestaltet werden. Aber jetzt, während der Corona-Zeit, haben sich die Menschen gegenseitig übertroffen, wie sie ihre Balkone, aber auch Terrassen und Gärten beleben. Mit Balkongeschichten oder Balkonbildern könnt ihr mir eine grosse Freude machen. Ich bin fleissig am Verschicken der Bildreich-Balkon-Postkarten von Martina Issler. Menschen aus aller Welt bestätigen mir, dass sich ihre Freude an ihren Balkonen und Gärten in diesem Jahr vervielfacht hat und dass sie alles Mögliche anpflanzen, ausprobieren und neu gestalten.

Gestern Abend hatte ich ein besonderes Balkon-Erlebnis. Das Gewitter wurde ja in meinem Handy schon für den Nachmittag angesagt und ich schleppte deshalb die Regenjacke den ganzen Nachmittag umsonst mit. Erst abends um 20 Uhr fing es dann an. Das heisst, den Anfang habe ich wohl verpasst. Als ich auf den Balkon kam war schon ein volles Konzert im Gange. Wäre ich ein Komponist, würde ich glatt eine Sinfonie schreiben. Das lauteste Geräusch war natürlich das Krachen des Donners. Am besten gefiel mir das zarte Rauschen des Regens. Ich meinte zu spüren, dass die Erde und die Wiesen grosse Freude am Regen hatten und ihn aufsogen. Der Strasse hingegen war es egal, dass es regnete. Sie kann ja den Regen nicht aufnehmen. Die Autos, die herumfuhren, spritzten das Wasser auf den Strassen mutwillig herum. Das Rauschen der Bäume und das Zirpen der Grillen hörte ich auch, wenn es nicht gerade donnerte. Und dann hörte ich noch die Kirchenglocken. Keine Ahnung warum Glocken am Freitag Abend so lange läuten. Es klang aber sehr friedlich. Ich musste an Thích Nhất Hạnh denken (ein bekannter vietnamesischer buddhistischer Mönch, der auch Bücher geschrieben hat). Er schrieb mal, dass immer wenn eine Glocke läutet, man ganz bewusst ein- und ausatmen soll. Das habe ich dann auch gestern Abend gemacht und es war sehr wohltuend. Und dann kam noch der Regenbogen, den ich über alles liebe.

In der heutigen Zeit höre ich viele (im übertragenen Sinn) Donnergeräusche, die mir auch Angst machen. Das einzige, was mir hilft um meine Angst nicht zu verstärken, ist mich auf Mitmenschlichkeit und Freundlichkeit zu konzentrieren. Auch in der heutigen Zeit gibt es so viele Mut machende Geschichten. Es ging mir sogar bei einem Buch so. Ich hatte mich zuerst nur auf das Negative und die Abgründe konzentriert. Ich habe schon gedacht, dass ich es nicht zu Ende lesen kann. Dann habe ich einfach meinen Blickwinkel geändert und mich auf die hoffnungsvollen Momente konzentriert. Das Buch von Kent Haruf heisst «Lied der Weite». Harufs Romane spielen alle in einer fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados. Er kann hautnah die Abgründe, aber auch die Hoffnungen der Menschen in dieser Stadt erzählen. Unterdessen habe ich auch noch «Abendrot» und «Unsere Seelen bei Nacht» von Kent Haruf als E-Book von unserer Bibliothek gelesen und kann alle Bücher sehr empfehlen.  

Im Moment lese ich von Michael Kumpfmüller «Die Herrlichkeit des Lebens», das mir als Antwort auf meinen letzten Blog als Liebesgeschichte empfohlen wurde. Darin werden die letzten Lebensjahre von Franz Kafka beschrieben, wie er im Ostseebad Müritz im Sommer 1923 die einige Jahre jüngere Dora Diamant kennenlernt und 1924 in ihren Armen stirbt. Franz Kafka ist nur 41 Jahre alt geworden. Obwohl sehr viel Trauriges im Buch beschrieben ist, strahlt dieses Buch Liebe, Hoffnung und Poesie aus, die eben nur in jedem einzelnen Moment erlebt werden kann.

Heute morgen waren wir in Ilanz einkaufen. Als wir so durch die erste Stadt am Rhein schlendern, fällt mir ein wunderbarer Kaktus mit unglaublich vielen Blüten auf. Er steht völlig unspektakulär an einer Ecke eines alten Hauses. Diese Pflanze muss schon uralt sein und blüht einfach so vor sich hin. Sie wird wahrscheinlich in Ruhe gelassen und bekommt ab und zu ein wenig Wasser, nicht zu viel. Sie blüht in voller Kraft ungeachtet der Umgebung. Das ist Sein.