Claire

Im Moment erlebe ich weissen Winter in Schluein, obwohl ich schon auf bunten Frühling eingestellt war. Das Wetter ist ja immer wieder ganz anders als erwartet, erhofft oder befürchtet. Darum gibt es auch so viel zu diskutieren.

Ich habe ein tolles Buch von Christian zum Geburtstag bekommen, in dem das Wetter eine grosse Rolle spielt. Es ist ein neues Buch von Christine Thürmer und heisst «Auf 25 Wegen um die Welt». Christian und ich sind weit entfernt, irgendwann noch Langstreckenwanderer zu werden, aber es ist einfach so faszinierend die Berichte von Christine Thürmer zu lesen. Sie übernachtet meistens in der freien Natur und erlebt von brütender Hitze bis eisige Kälte einfach alles. Christine Thürmer schreibt auch regelmässig Tageseindrücke auf Facebook, wenn sie auf Wanderungen ist. Christian und ich verfolgen ihre Schilderungen meist schon vor dem Frühstück. Oft sind wir nach dem Lesen sehr dankbar für unser komfortables Leben und beobachten heute mit Freude das Schneetreiben aus dem Fenster.

Zu unserem komfortablen Leben gehört auch, dass wir wieder vermehrt kulturelle Veranstaltungen besuchen können. So haben wir seit längerer Pause wieder ein Abonnement von den Kulturanlässen in Niederwil gelöst, die in einem völlig veralteten und hinterwäldlerischen Schulhaussaal stattfinden. Die Atmosphäre dort ist einzigartig und wir haben schon am ersten Abend so viel gelacht wie schon lange nicht mehr. Das neue Solostück «Endlich» von Claire (Judith Bach) ist einfach grossartig. Sie erzählt so warmherzig von ihrer Oma Fritz und führt auch immer noch Gespräche mit ihr auf dem Friedhof in Berlin.

Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe auch einmal ein entscheidendes Gespräch mit meinem Grossvater Hans Signer auf dem Friedhof geführt. Im Auto auf dem Weg zur Beerdigung meines Grossvaters hatte ich die schlimmsten Angst-Zustände, konnte kaum atmen und dachte dass ich die ganze Trauerfeier nicht überleben werde. Als ich dann auf dem Friedhof stand war es, als ob der Grossvater mit mir reden würde: «Wir haben viel Zeit zusammen verbracht und viel Schönes erlebt. Du hast mir Freude gemacht. Denk dran, die Liebe geht nicht verloren und ist niemals vorbei. Du darfst traurig sein, aber du darfst auch wieder lachen.» Plötzlich konnte ich wieder atmen.

Es ist einfach köstlich, was Claire über ihre Oma Fritz zu erzählen weiss. Dank dem kaputten Motorrad von Oma Fritz, auf dem sie in Träumen die Welt bereist hatten, trifft Claire auch den Mechaniker Harry Davidson, einen ehemaliger Schulkollegen, wieder. Er flickt das Motorrad, während Claire eine Schallplatte immer wieder hört. Wir alle im Saal werden von den alten Schlagern dieser Schallplatte mitgerissen und vor allem bei Lied „ti amo“ singen alle mit. Leider hat die Platte Kratzer und springt immer wieder zum nächsten Lied. Claire spielt meisterhaft Klavier.

Wir haben auch einen Plattenspieler in Schluein und viele Schallplatten. Ich habe einige von meinen Eltern und Grosseltern geerbt und Christian hat sich klassische Schallplatten mit zwangsgewechseltem Geld in der DDR gekauft. Leider hören wir nicht mehr so oft Schallplatten. Es ist ja so anstrengend die Platten immer zu wenden. Radio ist einfacher. Wie haben wir gestaunt, dass die Grossnichten von Christian gar nicht mehr wussten was eine Schallplatte ist.

Wer wird mal unsere Schallplatten erben wollen? Claire hat einen Haufen Briefe geerbt von ihrer Oma, die auch noch auf dem Friedhof Verwirrung stiften.

Und wenn wir schon bei alten Briefen sind, möchte ich zum Abschluss noch ein Lieblingsbuch von mir empfehlen «Das glückliche Geheimnis» von Arno Geiger. Schon seine Bücher «Der alte König in seinem Exil» und auch «Unter der Drachenwand» haben mir sehr gut gefallen. Das glückliche Geheimnis ist vielleicht sein persönlichstes Buch. Arno Geiger hat jahrzehntelang ein Doppelleben geführt und Papiercontainer durchwühlt. Vom Finden und Wegwerfen handelt das Buch. Das Buch ist vielleicht nicht für alle geeignet, aber mir hat es gefallen. Es steckt so viel Weisheit drin.

3 Gedanken zu „Claire

  1. Silvia

    Liebe Rosemarie
    Vielen Dank für Deine spannenden und tollen Beiträge! Das Buch von Arno Geiger spricht mich auch sehr an, er ist ein feinfühliger Autor.
    Gute Tage in den Bergen bei Kälte und Schnee.
    Fröhliche, sonnige Grüsse aus dem frühlingshaften Basel
    Silvia

  2. Veronika Koch

    Liebe Rosemarie

    Ich habe tatsächlich deine letzten drei Blog-Beiträge verpasst, da sich der Link in den Spam verirrt hat.

    Ich habe keine Erinnerungen an meine Grosseltern, in denen sie mir nach ihrem Tod noch etwas mitgegeben hätten.
    Aber ich erinnere mich an meinen Opa, der aufgebahrt in der Kapelle des Friedhofes lag und von dem wir Kinder Abschied nehmen durften. Ich war etwa 8 Jahre alt und sah zum ersten Mal einen toten Menschen. Aber es hat mich gar nicht erschreckt. Denn der Ausdruck auf seinem Gesicht passte genau zu meiner Vorstellung von Himmel. Ich glaube, an der Beerdigung bin ich dann gar nicht gewesen. Auf jeden Fall habe ich da gar keine Bilder mehr im Kopf.

    Als seine Frau, meine Oma, dann später starb, war ich schon ein Teenager, und ich weiss noch, dass ich mich bei der Beerdigung fast zu Tode schämte.
    Meine Oma war zeitlebens eine herzensgute Frau gewesen, die immer für alle da war, alle gern hatte und allen gerne gab. Leider wurde sie dann im Alter ziemlich dement und musste in eine Pflegeeinrichtung. Aber auch da war sie extrem zufrieden und brauchte für sich selbst gar nichts.
    Auf ihrer Abdankungsfeier fand einfach niemand Worte für das Wesen dieser lieben Frau und ihr unermüdliches Arbeiten für alle. Sie hat sehr lange in der gleichen Strasse gelebt und unser kleiner Lebensmittelladen war damals das Herz des Viertels. Alle Kunden kannten sie und schütteten ihr das Herz aus. Und sie hörte allen zu. Dann kam sie aber für ihre letzten Jahre ausserhalb der Stadt in ein Altersheim.
    Die Beerdigung fand dann wieder in ihrem Stadtviertel statt. Der Pfarrer kannte sie wohl nicht und alle ihre Kinder waren auch nicht die, die ihre Gefühle auf der Zunge tragen. Und ich als ihre Enkelin fand die Feier fürchterlich nichtssagend und schlimm. Eine reine Formalität, von der jeder wünschte, sie schnell hinter sich zu haben.

    Aber es kann auch ganz anders gehen. Meine andere Oma wurde über 92 Jahre alt und entschloss sich im Alter aus einer familiären Enttäuschung heraus, sich den Zeugen Jehovas anzuschliessen. Sie war ein sehr komplizierter Mensch mit einem kompizierten Leben, und sie sah im Alter nicht mehr sehr viel positiv. Als sich dann der Pfarrer bei uns meldete, um die Abdankungsfeier mit uns zu besprechen, hielt ich es für schier unmöglich, da etwas Tröstliches zu sagen. Aber er hat eine wunderschöne Rede zum bewegten und nicht immer leichten Leben einer Frau gehalten, die er gar nicht gekannt hat. Und er hat ihrem Leben doch ganz viel positive Aspekte entnommen, die uns beim Erzählen gar nicht eingefallen waren.
    Das war entgegen meiner Erwartungen ein sehr stimmiger und auch versöhnlicher Lebensrückblick.

    Es kommt also immer darauf an, ob sich jemand die Mühe macht, in das Leben eines anderen einzutauchen
    und den Mensch hinter allem zu sehen.
    Und für mein Leben ist das sehr wichtig geblieben, auch hinter die Kulissen zu sehen und die Geschichte eines Menschen zu bergeifen und sich von ihr berühren zu lassen.

    Und das Finden von Gechichten und Wahrheiten im Müll von anderen Menschen, das das Buch von Arno Geiger wohl beschreibt, geht sicher auch in diese Richtung. Einfach Menschen näher zu kommen. Und ich wünchte, ich hätte alte Briefe von meinen Grosseltern, die mir ihr inneres Fühlen und Denken offenbaren würden.
    Also alte Briefe vielleicht niemals wegwerfen!
    Und alte Schallplatten werden wieder sehr modern, und wir konsumieren sie vielleicht irgendwann mit mehr Zeit wieder viel bewusster als Radio.

    Alles, alles Liebe. Veronika

  3. Doris Horisberger

    Liebe Rosmarie
    Lese deinen Blogg, Erinnerungen an meine Grosseltern bloppen auf. Warm ums Herz. Geniesse heute mein Grosi sein sehr.
    Und ihr seid aktuell in Schluein? Sind heute in Miraniga angekommen und geniessen das Schneetreiben.
    Ganz liebe Grüsse Doris

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