Einfach sein

Es ist schwül. Ich sitze auf dem Balkon unserer Ferienwohnung in Schluein. Seit der Lockdown-Zeit bin ich ein noch grösserer Fan von Balkonen geworden. Es hat mir schon immer gut gefallen, wie in Wohnblöcken die Balkone individuell gestaltet werden. Aber jetzt, während der Corona-Zeit, haben sich die Menschen gegenseitig übertroffen, wie sie ihre Balkone, aber auch Terrassen und Gärten beleben. Mit Balkongeschichten oder Balkonbildern könnt ihr mir eine grosse Freude machen. Ich bin fleissig am Verschicken der Bildreich-Balkon-Postkarten von Martina Issler. Menschen aus aller Welt bestätigen mir, dass sich ihre Freude an ihren Balkonen und Gärten in diesem Jahr vervielfacht hat und dass sie alles Mögliche anpflanzen, ausprobieren und neu gestalten.

Gestern Abend hatte ich ein besonderes Balkon-Erlebnis. Das Gewitter wurde ja in meinem Handy schon für den Nachmittag angesagt und ich schleppte deshalb die Regenjacke den ganzen Nachmittag umsonst mit. Erst abends um 20 Uhr fing es dann an. Das heisst, den Anfang habe ich wohl verpasst. Als ich auf den Balkon kam war schon ein volles Konzert im Gange. Wäre ich ein Komponist, würde ich glatt eine Sinfonie schreiben. Das lauteste Geräusch war natürlich das Krachen des Donners. Am besten gefiel mir das zarte Rauschen des Regens. Ich meinte zu spüren, dass die Erde und die Wiesen grosse Freude am Regen hatten und ihn aufsogen. Der Strasse hingegen war es egal, dass es regnete. Sie kann ja den Regen nicht aufnehmen. Die Autos, die herumfuhren, spritzten das Wasser auf den Strassen mutwillig herum. Das Rauschen der Bäume und das Zirpen der Grillen hörte ich auch, wenn es nicht gerade donnerte. Und dann hörte ich noch die Kirchenglocken. Keine Ahnung warum Glocken am Freitag Abend so lange läuten. Es klang aber sehr friedlich. Ich musste an Thích Nhất Hạnh denken (ein bekannter vietnamesischer buddhistischer Mönch, der auch Bücher geschrieben hat). Er schrieb mal, dass immer wenn eine Glocke läutet, man ganz bewusst ein- und ausatmen soll. Das habe ich dann auch gestern Abend gemacht und es war sehr wohltuend. Und dann kam noch der Regenbogen, den ich über alles liebe.

In der heutigen Zeit höre ich viele (im übertragenen Sinn) Donnergeräusche, die mir auch Angst machen. Das einzige, was mir hilft um meine Angst nicht zu verstärken, ist mich auf Mitmenschlichkeit und Freundlichkeit zu konzentrieren. Auch in der heutigen Zeit gibt es so viele Mut machende Geschichten. Es ging mir sogar bei einem Buch so. Ich hatte mich zuerst nur auf das Negative und die Abgründe konzentriert. Ich habe schon gedacht, dass ich es nicht zu Ende lesen kann. Dann habe ich einfach meinen Blickwinkel geändert und mich auf die hoffnungsvollen Momente konzentriert. Das Buch von Kent Haruf heisst «Lied der Weite». Harufs Romane spielen alle in einer fiktiven Kleinstadt Holt in der Prärie Colorados. Er kann hautnah die Abgründe, aber auch die Hoffnungen der Menschen in dieser Stadt erzählen. Unterdessen habe ich auch noch «Abendrot» und «Unsere Seelen bei Nacht» von Kent Haruf als E-Book von unserer Bibliothek gelesen und kann alle Bücher sehr empfehlen.  

Im Moment lese ich von Michael Kumpfmüller «Die Herrlichkeit des Lebens», das mir als Antwort auf meinen letzten Blog als Liebesgeschichte empfohlen wurde. Darin werden die letzten Lebensjahre von Franz Kafka beschrieben, wie er im Ostseebad Müritz im Sommer 1923 die einige Jahre jüngere Dora Diamant kennenlernt und 1924 in ihren Armen stirbt. Franz Kafka ist nur 41 Jahre alt geworden. Obwohl sehr viel Trauriges im Buch beschrieben ist, strahlt dieses Buch Liebe, Hoffnung und Poesie aus, die eben nur in jedem einzelnen Moment erlebt werden kann.

Heute morgen waren wir in Ilanz einkaufen. Als wir so durch die erste Stadt am Rhein schlendern, fällt mir ein wunderbarer Kaktus mit unglaublich vielen Blüten auf. Er steht völlig unspektakulär an einer Ecke eines alten Hauses. Diese Pflanze muss schon uralt sein und blüht einfach so vor sich hin. Sie wird wahrscheinlich in Ruhe gelassen und bekommt ab und zu ein wenig Wasser, nicht zu viel. Sie blüht in voller Kraft ungeachtet der Umgebung. Das ist Sein.  

10 Gedanken zu „Einfach sein

  1. Johanna Brefin

    Liebe Rosemarie
    Die wunderschönen Karten von Martina Isler haben wir auch im Laden. Leider hat sie in der Lockdown-Zeit ziemlich gelitten, da sie gerade die guten und begehrten Frühlingskarten kaum verkaufen konnte.
    Dass Dir die zitierten Bücher, die Du ja bei uns bestellt hattest (nochmals vielen dank!) so gefallen haben, freut mich.
    Auf meiner Terrasse habe ich einen ähnlichen Kaktus, er macht sehr unschöne „Blätter“ aber wunderschöne gelblich-weisse riesige Blüten, die über Nacht aufgehen und herrlich duften. Sie halten nur etwa 2 – 3 Tage.
    Leider kann ich das Foto davon hier nicht einfügen, oder ich weiss jedenfalls nicht wie das geht.
    Aber privat werde ich es Dir senden.
    Herzlichen Gruss
    Johanna

    1. Rosemarie Beitragsautor

      Liebe Johanna
      Auch Christian konnte leider dein tolles Foto nicht einfügen. Trotzdem vielen Dank, dass du es mir geschickt hast. Es ist wirklich ein Wunder, wenn solch schöne Blüten aufgehen.
      Herzliche Grüsse
      Rosemarie

      1. Christian Buser

        Liebe Johanna,
        Ich habe es doch noch geschafft… hier ist das Bild:

        Kaktus

        Ein sehr gelungenes Bild!

  2. Therese Richner

    Liebe Rosemarie
    Danke für deine ungewöhnlichen Gedanken. Es ist spannend ihnen nachzuhängen.
    Der Kaktus ist ein Weihnachtskaktus. Ich habe auch so einen und immer an Weihnachten und Ostern blüht er wie wild. Ich habe schon manchmal darüber gestaunt.
    En liebe Gruess
    Therese

    1. Rosemarie Beitragsautor

      Liebe Therese
      Das freut mich, dass der Blog neue Gedankenimpulse auslöst.
      Offensichtlich kann der Weihnachtskaktus zu verschiedenen Jahreszeiten blühen. Es wäre noch interessant die Zusammenhänge zu wissen, warum und wann ein Kaktus blüht oder nicht blüht.
      Liebe Grüsse
      Rosemarie

  3. Hanna Wilhelm

    Liebe Rosmarie,

    ich danke dir ganz herzlich für deine Gedanken in deinem neuen Blog. Diese haben mich sehr angesprochen und wohl auch deshalb, weil wir am vergangenen Wochenende eine Gruppe mit 18 Pilgerinnen und Pilgern auf dem Jakobsweg geführt haben von von Laax – Falera – Ladir – Ruschein – Siat – Panix – Andiast und in die Kirche von Waldensburg.
    und in Ilanz haben wir übernachtet und das Städtchen noch einwenig genossen.
    Und Ende August machen wir das nächste Teilstück noch von Andiast nach Disentis.
    und beim Pilgern kann man so viel Schönes und Neues entdecken.

    Liebe Grüsse und eine gute Zeit,
    Hanna

    1. Rosemarie Beitragsautor

      Liebe Hanna
      So schön! Dann seid ihr in der Gegend gewesen, wo wir seit Jahren immer wieder gerne Zeit verbringen. Einer unser Lieblingsspaziergänge geht von Brigels nach Waltensburg oder Andiast (auch im Winter). Dort haben wir schon die Muschel vom Pilgerweg gesehen. Die Fresken in der Kirche Waltensburg/Vuorz haben wir uns auch schon mehrmals angesehen.
      Viel Freude bei der nächsten Etappe! Liebe Grüsse, Rosemarie

  4. Veronika Koch

    Liebe Rosmarie
    Ich finde sie sehr liebenswert, deine Begeisterung für Balkone. Schön, dass du diese kleinen Draussen-Räume zum Thema deines Blogs gemacht hast. In den letzten Monaten sind sie ja für ganz viele zur Oase geworden. Zur ganz privaten Möglichkeit, an der Luft zu sein, ohne jemand anderen oder sich selbst zu gefährden. Es wurde ja sogar darauf Kunst gemacht. Sänger gaben Balkonkonzerte. Musiker spielten für die Nachbarschaft. Die Italiener sangen, um Hoffnung zu schöpfen, für das Gemeinschaftsgefühl und um durchzuhalten.

    Wer hat diese Vorsprünge in den Hausfassaden wohl mal erfunden? Bei alten Stadthäuser fand man sie eigentlich nicht. Bei alten Bauernhäusern auch nicht. In früheren Jahrhunderten hatten die Menschen wohl nicht das Bedürfnis, auch zu Hause noch draussen zu sein.
    Der Buckingham-Palast hat einen Balkon. Aber er ist nicht behaglich. Keine Sitzgruppe. Keine Blumen. Wahrscheinlich nutzte man diese Vorbauten früher nur, um sich zu zeigen. Oder etwas Wichtiges zu verkünden. Hoch über den Menschen. Säulenflankiert. Erhaben und geschützt.
    Im Vatikan winkt der Papst vom Balkon. Segnet die Stadt und den Erdkreis. Wie auf einer Bühne.

    Mir ist die heutige Nutzung unserer Balkone wesentlich lieber. Die Möglichkeit, draussen zu wohnen. Auf ihnen Tomaten zu ziehen. Und Kräuter. In der Sonne zu frühstücken. Die Füsse hochzulegen und ein Buch zu lesen. Blumen zu pflanzen, die auch nach drinnen leuchten. Und bei grosser Hitze den Sonnenschirm aufzuspannen, dessen Schatten im Wohnzimmer ein mediteranes Zwielicht erzeugt, dass irgendwie unglaublich guttut.

    In den letzten Monaten der Corona-Zeit habe ich eine neue Funktion unseres Balkons entdeckt. Er wurde mein Freiluft-Büro. Mit Morgensonne und windgeschützt und ermöglichte er mir damit schon im März, oft draussen zu arbeiten. Aber ganz ehrlich, ich habe es mir kaum getraut, das im Geschäft zu erzählen. Ich empfand es als solchen Luxus, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam. Ich konnte beim Arbeiten die Füsse hochlegen, mich zurücklehnen und trotzdem lesen und Korrekturen anstreichen. Alles in frischer Luft und bei einer angenehmen Temperatur. Meine Kollegen, die auf einen Computer angewiesen sind, mussten zwangsläufig in Räumen arbeiten. Und ich habe ihnen vorsichtshalber nicht viel von meinem Balkonien vorgeschwärmt. Aber mir hat mein Morgen im Draussen-Raum in den letzten Monaten sehr sehr gut getan und ich habe immer noch nicht genug von ihm.

    Auch das ist doch irgendwie einfach sein. Kein langer Weg. Keine drei verschiedenen Verkehrsmittel. Einfach eine Tür öffnen und da sein. Dazu noch ausgeschlafen.
    Mir gefällt das Einfach-Sein längers, je mehr. Es spart Zeit, die ich nach meinem eigenen Willen verbringen kann. Ich muss weniger kaufen, um mir gegen das Gefühl, unfreiwillig zeitgetaktet zu sein, irgendetwas Gutes zu tun. Ich kann Dinge selbst machen, die mich erfüllen, wie Brot backen oder kochen. Mich mehr bewegen. Ich habe in den letzten Monaten einfache Spaziergänge in der direkten Umgebung ehrlich schätzen gelernt.
    Das Einfache möchte ich versuchen, für mich zu bewahren. Das blosse Sein kann ich noch nicht sehr gut. Zu viel möchte ich noch immer erledigen, erreichen, erlernen, verstehen. Aber es ist erstrebenswert, dass man ohne Pläne, einfach auch mal nur im Moment sein und alles so annehmen kann, wie es kommt. Ich übe es.

    Liebe Rosmarie, du hast wieder viele Gedanken angestossen. Ich find es schön, sie weiterzudenken. Und zu lesen, wie verschieden jeder darauf reagiert und was für ihn wichtig ist.

    Ach übrigens, vielleicht war das Glockenläuten ein Wetterläuten. Bei heftigen Gewittern klingen bei uns im Dorf oft auch die Glocken. Ich weiss allerdings nicht, ob der Pfarrer mit ihnen das Gewitter vertreiben oder den Menschen Mut machen will.

    Ganz viele liebe Grüsse. Veronika

    1. Rosemarie Beitragsautor

      Liebe Veronika
      Wow, so viele hochinteressante Gedanken zu Balkonen. Vielen Dank! Mit dem Wetterläuten könntest du auch recht haben. Ich werde mich mal noch bei unseren Freunden in Ilanz erkundigen, ob dies in der Surselva üblich ist.
      Wahrscheinlich ist es zu anstrengend das Sein zu üben? Vielleicht kann man entdecken, dass es schon da ist. Ein- und Ausatmen, ein kleiner Abstand zu den Gedanken.
      Ich freue mich sehr über den Austausch mit dir!
      Liebe Grüsse, Rosemarie

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